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Die Befristeten – Schauspielhaus Bochum meldet sich nach Corona-Lockdown mit Premiere zurück

11.06.2020

Es ist Mittwoch, der 10. Juni. Der Corona-Lockdown hat im Schauspielhaus Bochum - endlich - ein Ende gefunden. Nach 13 Wochen hat das Theater seine Türen wieder für den Publikumsverkehr geöffnet - natürlich unter strengsten Hygienemaßnahmen samt einem deformierten Zuschauersaal: Statt 811 sind pro Vorstellung nur noch 50 Sitzplätze freigegeben und der Großteil der Sitze wurde entfernt. Das hat zwar seine Vorteile - eine schier endlose Beinfreiheit und kein lästiges Aufstehen oder an anderen Zuschauer*innen vorbeiquetschen -, aber die Atmosphäre ist dadurch beinahe gespenstisch. Zudem bleiben sämtliche Türen während der Vorstellung offen stehen. An stetem Luftwechsel mangelt's an diesem Abend freilich nicht. 

Auf dem Programm steht Elias Canettis "Die Befristeten" in einer Inszenierung von Intendant Johan Simons, der die Wiedereröffnung seines Hauses gleich mit einer kurzfristig angesetzten Premiere feiert. In seinem Stück stellt Canetti ein spannendes Gedankenexperiment auf: Das Sterbedatum ist für alle Menschen von Geburt an festgelegt. Sie tragen ihre Lebenserwartung sogar im Namen, heißen 70 oder 32. Sie leben ein scheinbar sorgloses Leben, weil sie genau wissen, wie viel Zeit ihnen noch zum Leben bleibt. Ein effektives Nutzen der Lebenszeit ist dadurch möglich und die Angst vor dem plötzlichen Tod nicht mehr von Belangen. Doch ein Mann namens 50 misstraut der Fehlerlosigkeit des Systems und hinterfragt den unangefochtenen Wächter des Systems. Er zettelt zwar eine Revolte an, doch werden die Menschen wirklich glücklicher sein, wenn sie aus der Vorbestimmtheit entlassen sind?

Nicht nur für das Publikum ist der Theaterbesuch eine besondere Herausforderung. Gleich neun Köpfe hat das Ensemble an diesem Abend, die sich wie die Zuschauer*innen natürlich an die Hygienestandards und die Abstandsregeln halten müssen. Das gelingt Johan Simons vor allem durch eine geschickte Schauspieler*innen-Konstellation im Raum - sie bespielen nämlich nicht nur die Bühne, sondern auch den Zuschauerraum. Auch die verschiedenen Abstandslängen - 1,5, 3 und 6 Meter je nach Intensität des Sprechens (Dank an das Wirrwar der Corona-Schutzverordnungen) - bezieht Simons durch rot-weiß markierte Latten auf dem Boden aktiv mit ein. Das geht so geschickt auf, dass man nach einer gewissen Zeit jene Regeln nicht mehr als solche wahrnimmt, sondern als inszenatorischen Schachzug empfindet. Kommen sich die Spielerinnen und Spieler dann doch mal etwas zu nah, weichen sie einander flüchtend aus und verschwinden hier und da in den schmalen Nischen der Theaterwände. 

Ausstattungstechnisch ist der Abend recht einfach gehalten. Das Ensemble trägt rote Ganzkörperanzüge und spielt mit nur wenig Requisiten. Stattdessen wird technisch groß aufgefahren und die Bühnenmaschinerie zeigt vor allem zu Beginn, was sie alles kann. Eingebettet in musikalische Sequenzen, Nebel und verschiedene Lichtstimmungen wird dadurch auch das Theater als technisches Wunderwerk gefeiert.

Canettis Gedankenexperiment zum Umgang mit dem Tod ist ein spannendes Unterfangen. Und doch hat der 90-minütige Abend durch die Konstruktion seines Textes durchaus seine Längen und verliert sich hier und da auch gerne mal in etwas absurden performativen Einheiten. Dennoch gilt es an diesem Abend auch das große Ganze zu sehen:  Das Theater ist endlich zurückgekehrt und die Freude darüber bei allen Beteiligten in jeder Sekunde spürbar, das Ende des Streaming-Theaters in greifbarer Nähe. Man darf nur hoffen, dass wir uns nicht allzu lange an die mit den Vorschriften verbundenen Ästhetiken gewöhnen müssen. Schließlich wollen wir in allzu naher Zukunft auch wieder Kämpfe, Küsse, Tänze, Live-Musik, Schreie und Berührungen auf der Bühne sehen. 

von Marvin

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