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Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer – Weg mit der Menschlichkeit!

08.06.2019

Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts
War ein Krieg aller Völker […]
Welcher ausspie ein Geschlecht
Voll Aussatz
Das kurz dauerte und
Untergehend die gealterte Welt
Abriß.

Es ist das letzte Jahr des Ersten Weltkrieges. Die Soldaten warten darauf, dass etwas passiert: Sei es das Kriegsende oder der Ausbruch einer Revolution. Johann Fatzer stiftet einige seiner Kameraden zur Desertation an und flieht mit ihnen nach Mülheim an der Ruhr, wo sie bei der Frau eines Kameraden unterkommen und sich verstecken. Im Keller warten sie auf die Revolution und träumen von einer neuen, besseren Gesellschaft. Doch anstatt für diese zu kämpfen, verlieren sie nach und nach ihre Menschlichkeit, beginnen sich zu radikalisieren, ehe sie sich schließlich gegenseitig bekämpfen.

Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer von Bertolt Brecht blieb ein mehr als 500-seitiges Fragment, das von ihm nie vollendet wurde. Von 1930 bis zu seinem Lebensende schrieb er an dem Stück, das schließlich erst Heiner Müller 1978 in eine Stückfassung brachte. Der kroatische Regisseur Oliver Frljić, dessen Theaterabende stets politisch, provokant und polarisierend sind, hat Brechts Stück nun am Schauspiel Köln inszeniert und damit sein Kölner-Debüt gegeben. Premiere war am 7. Juni im Depot 2.

Es ist ein sehr düsteres Bild, das Regisseur Oliver Frljić auf der Bühne des Depot 2 zeichnet: Giftig gelbes Licht scheint auf ein rechteckiges Plateau, auf dem zwölf Feldbetten mit schmalen blauen Matratzen. Der Boden ist mit schwarzer Erde ausgelegt und vorne an der Rampe steht ein Fahnenmast, der die deutsche Reichskriegsflagge hisst. Über der Bühne schwebt, sich dem restlichen Bühnenbild völlig entziehend, ein glänzender Kronleuchter: Der Kapitalismus steht über allem. Die sieben Schauspieler*innen tragen strenge Uniform und laufen beim Zuschauereinlass übers Feld und gießen den Boden. Dazu erklingt eine Coverversion von Marlene Dietrichs Schlager "Sagt mir, wo die Männer sind". Was jetzt noch recht friedlich wirkt, wird im nächsten Moment rapide durchbrochen. Die Soldat*innen legen sich in die Betten und schlafen, eine kurze Ruhe tritt ein, ehe Flutlicht-Scheinwerfer von der Bühnentiefe gen Zuschauersaal scheinen und tausend Schüsse fallen. Sie schrecken hoch, verstecken sich hinter ihren zu Schutzwallen aufgestellten Betten und brüllen die ersten Wörter der verbotenen Strophe der Deutschland-Hymne "Deutschland, Deutschland über alles...". Ein alptraumhaftes Bild, das den Zuschauer in die Zeit vom Ende des ersten Weltkriegs transportiert. Wie wahnsinnig geworden wiederholt einer von ihnen immer und immer wieder diese wenigen Wörter. Die Lebensformel eines jeden Soldaten.

Der Abend zeigt sich vor allem als atmosphärisch dicht, lässt nie warmes, erhellendes Licht aufkommen und bleibt stets düster, neblig, giftig, laut. Und die Schauspieler*innen? Die werden in Frljićs Inszenierung immer animalischer: Anfangs noch hier ein harmlos wieherndes Pferd, nachher dann abgemagerte Hunde, die sich hungernd auf dreckige Soldatenstiefel stürzen und diese zerkauen. Eine provokante Darstellung von Soldaten, die im ersten Weltkrieg gekämpft haben. Für die Hauptfigur des Johann Fatzer hat sich der Regisseur ebenfalls etwas geniales einfallen lassen, das eine zusätzliche Deutungsebene eröffnet: Er lässt den Protagonisten nach und nach von allen sieben Schauspieler*innen verkörpern, Szene für Szene wird er von jemand anderes gespielt. Das erfordert zwar eine hohe Konzentration seitens der Zuschauer*innen, sorgt damit aber auch dafür, dass man aufmerksam folgt und stellt die Figur als Prototyp aus. Denn einen klaren roten Faden hat der Theaterabend nicht. Frljićs Inszenierung spiegelt hingegen das Fragmenthafte des Originaltextes wieder und fügt dem Text so eine eigene Autorenschaft hinzu. Seine Spielerinnen und Spieler agieren dabei auf höchstem Energielevel, stets körperlich und sprühen förmlich vor Spielfreude.

Dass das, was hier passiert, nur Bühnenspiel ist, wird seitens der Spielenden nicht verheimlicht – ganz im Gegenteil: Die vierte Wand wird mal bewusst eingerissen und der Zuschauer bewusst mit einbezogen. Am Ende richtet sich dann Schauspieler Benjamin Höppner in einem Monolog direkt an das Publikum, klagt unsere Welt an und schreit den Unmut heraus: "Wir haben Frieden, weil wir den Krieg nach außen tragen". Es folgt ein dramatischer, kurzer Abgang durch die Notausgangstür rechts der Bühne, ehe er ins Kriegsspiel zurückkehrt als wäre nichts gewesen. Die Inszenierung holt das Stück zwar nicht explizit in die heutige Zeit, zeigt stattdessen aber eine große Zeitlosigkeit und findet erstaunlich aktuelle Bilder. Ein gelungenes Regiedebüt von Regisseur Oliver Frljić am Schauspiel Köln, das mit tosendem Applaus und vereinzelten Standing Ovations seitens des Publikums gewürdigt wird. Er selber scheint auch zufrieden zu sein, denn er umarmt seine Spieler*innen herzlich beim Applaus und strahlt vor Stolz. Bravo!

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von Marvin

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