Vor drei Jahren, am 24. Juli 2010, starben bei der Loveparade in Duisburg 21 Besucher. Hunderte Menschen wurden verletzt. youpod-Autorin Lara erlebte die Massenpanik mit, flüchtete auf einen Lichtmast, stürzte, wurde überrannte - blieb aber unverletzt. Hier erinnert sie sich an den Tag.
21 Tote. Hunderte Verletzte. Vielleicht kann man so den Schmerz erklärbar machen. Durch abstrakte Zahlen dem Tod etwas Lebendiges geben. Vielleicht aber auch nicht.
Es ist nicht so, als ob wir viel Glück gehabt hätten. Die anderen hatten einfach zu viel Pech.
Obwohl ich so viele Berichte und Schuldzuweisungen gelesen habe, begreife ich immer noch nicht richtig, was für eine Tragödie sich an jenem wolkenlosen Samstagnachmittag ereignet hatte. Was es heißt, auf einem Freudenfest dem Tod ins Gesicht zu blicken. Die Hände auszustrecken und keine Hilfe zu bekommen. Scheinbar unsichtbar zu sein. Was es heißt, niedergetrampelt zu werden.
Der unscheinbare Anfang
Es war ja eigentlich ein schöner Tag. Ein Tag, wie jeder andere auch. Meine Clique und ich waren unterwegs zu unserer ersten Loveparade. Wie immer saß ich in der Bahn am Fenster, atmete die frische Brise ein, die von draußen kam und nippte an einem Bier. Ausgelassen machten wir Fotos mit unserem Free-Hugs-Schild, das wir auf die Schnelle bei McDonalds gebastelt hatten.
In Duisburg angekommen wuselten wir durch viele fröhliche Menschen hindurch, Richtung Loveparade. Das Free-Hugs-Schild schmissen wir auf dem Weg weg, da uns zu viele betrunkene Menschen in die Arme fielen.
Gedränge und Gestank
Irgendwie hatte ich mir das Ganze anders vorgestellt. Harmonischer. Freier. Die Menschen standen Po an Po. Ein drückender Geruch aus Bier, Vanilleparfüm und Schweiß machte es mir schwer, durch die Nase zu atmen. Ich spürte fremde Körper an meinem Rücken und hätte am liebsten um mich geschlagen, um mehr Platz zu haben. Eine männliche Stimme krächzte: "Hier kann man den Frauen einfach an den Arsch packen, die können sich ja nicht wehren." Toll ...
Ich konnte mich nicht bewegen. Weder nach vorne, noch nach hinten. Manchmal ging ein Ruck durch die Menge und ich wurde automatisch von ihr weiter getragen. Immer weiter in Richtung Eingang. Trotz der beängstigen Enge freute ich mich. Dies sollte meine erste Loveparade werden. Und auch meine letzte.
Nach scheinbar endlosen Stunden des Drängens waren meine Freunde und ich endlich am Eingang. Ich stolperte über Glasscherben. Bier- und Vodkaflaschen lagen im schmalen Eingang verteilt. Plötzlich spürte ich einen starken Druck auf meinem Rücken. Ich taumelte an die schmale Absperrung, die wohl den Eingang markieren sollte. Die Menschenmasse spuckte mich förmlich durch den schmalen Durchgang, durch den immer nur eine Person hereingelassen werden konnte.
Meine Nase schnupperte schon nach frischer Luft. Doch ein Polizist hielt mich grob fest. Durchsuchte meine Taschen, während aufgebrachte Stimmen ihn aufforderten, schneller seine Arbeit zu machen. Hinter dem Eingang wartete ich auf meine Freunde. Endlich konnten wir uns wieder frei bewegen. Gemeinsam liefen wir Richtung Tunnel.
Glück im Unglück
Heutzutage weiß ich, wie schnell es passieren kann, dass ein Menschenleben ausgelöscht wird. Es reicht schon, einige Sekunden nicht mehr die Kontrolle über sich zu haben.
Wenn sich im Bus die Leute mal wieder über zu wenig Platz beschweren, werde ich nicht mehr so unruhig und wütend wie früher. Dann weiß ich, dass jede Ansichtssache eine Frage des Blickwinkels und der persönlichen Erfahrungen ist.
Meine Freunde und ich haben nie wieder über die Loveparade geredet. Nicht nach einem Jahr und nicht jetzt nach drei Jahren. Dabei kann ich mich an alle Details erinnern, als ob es gestern gewesen wäre: Gerade waren wir durch den Tunnel gelaufen. Ich sah Leute in der Menschenansammlung untergehen. Zurück konnten wir jetzt auch nicht mehr. Wir mischten uns unter die johlenden Menschen.
Flucht auf einen Mast
Doch dann bekam ich immer schlechter Luft. Meine Brust zog sich mehr und mehr zusammen. Mein Herzschlag hallte mit einem dumpfen Dröhnen in meine Ohren wieder. Um etwas Luft zu schnappen stellte ich mich auf die Zehenspitzen. In der Ferne kletterten manche Menschen einen hohen Lichtmast hoch. Mein erster Gedanke: "Ich muss hier raus." Meine beste Freundin musste dasselbe gedacht haben, denn sie schrie mir schrill zu: "Wir treffen uns auf dem Gelände wieder. Wir sehen uns."
Glücklicherweise wurde ich mit meine Freundin von der Masse irgendwie Richtung Mast gedrängt. Erst kletterte ich, dann sie. Ich schaute nicht herunter. Ich war frei und konnte atmen. Erst als ich von dem Mast auf das Gelände sprang, bemerkte ich, dass meine Hände eiskalt waren und meine Beine ein wenig zitterten.
Auf dem Gelände trafen wir nach etwa 20 Minuten auf meine Freunde. Wir hatten es geschafft. Wir waren entkommen.
Erleichtert und zugleich beunruhigt schauten wir vom Gelände aus auf die Menschen. Sie sahen wie viele kleine Smileys aus, die sich gegenseitig erdrückten und vermischten. Die Polizisten standen in Reih und Glied und beobachteten scheinbar teilnahmslos das Geschehen. Ein Hubschrauber zog laut knatternd seine Kreise über die Menge hinweg.
Hilflos in der Masse
"Warum tun die nichts? Verdammte Scheiße, wieso retten die nicht mit dem Hubschrauber die Menschen?", schrie ich aufgebracht meiner Freundin zu. Ihre Antwort: "Ja, die sollten wenigstens mit dem Megafon versuchen, Kontakt herzustellen. Aber wir können jetzt auch nichts machen. Lass uns das Gelände erkunden." Sie schnippte lässig die Zigarette auf den Boden und legte den Arm um mich.
Erst jetzt hörte ich die laute Musik und mir wurde bewusst, dass hier viele Menschen tanzten. Ich schaute noch einmal auf die Menschenansammlung hinter uns und musste schlucken.
Wir gingen an Bierbuden und Currywurstständen vorbei. Hier war es zwar voll, aber man konnte sich uneingeschränkt bewegen. Wir suchten uns einen freien Platz und waren froh. Wir tanzten. Wir vergaßen die Welt. Unsere Handys hatten keinen Empfang. Wir dachten uns nichts dabei.
Flashbacks und Erinnerungslücken
Auf dem Weg nach Hause wurden wir von Polizisten nach Drogen kontrolliert. Die Frage, wo es denn hier zum Hauptbahnhof gehe, wurde schulterzuckend abgetan. Kurz vor dem Bahnhof klingelte mein Handy. Meine Mutter rief ins Telefon und ich hörte im Hintergrund meine Familie aufatmen: "Gott sein Dank! Dir ist nichts passiert!"
Wieso sollte mir etwas passiert sein? Die nächsten Sätze meiner Mutter handelten von Toten und Verletzten. Und dann sah ich wieder den Krankenwagen vor mir: Meine Freunde und ich waren gerade durch den Tunnel gelaufen, bevor wir uns wieder in einem bunten, aggressiven Menschenknäuel befanden.
Menschen trampeln über mich
Ich wurde nicht nur zur Seite gedrückt. Ich wurde gequetscht. Ich fand die Hand meiner Freundin und verlor das Gleichgewicht. Dann sah ich nur Beine, die über mich stiegen und im selben Augenblick wurde ich wieder von ihr hochgezogen.
Wir bewegten uns weiter vorwärts und ich sah mehr Menschen auf dem Boden. Ich wollte jemandem helfen, aber die Gewalt der Masse ließ dies nicht zu. Ich wollte stehen bleiben, wurde aber immer weiter nach vorne geschoben. Viele Menschen weinten, einige schrien verzweifelt.
Plötzlich entdeckte ich den Krankenwagen. Doch der kam nicht durch. Die Leute schlugen mit ihren Fäusten gegen den Krankenwagen. Ein Sanitäter verkündete über ein Megafon: "Platz machen. Bitte lassen Sie uns durch." Ich konzentrierte mich auf meinen stockenden Atem, der immer schwerer ging. Eine Stimme, die ich bis heute nie vergessen werde, schrie: "Da hat bestimmt jemand zu viele Drogen genommen. Oder es ist nur ein Alkoholopfer!"
Rückblickend weiß ich gar nicht mehr, wie wir wieder nach Düsseldorf gekommen sind. Ich weiß nur noch, dass der Duisburger Hauptbahnhof abgesperrt war.
Als wir ihn wieder betreten durften, fühlte ich mich wie auf der Flucht. Die Leute rannten und stürmten zu ihren Bahnen. Dazwischen verkündeten aufgeregte Stimmen: "Es gab Tote, es gab Tote!" Ich dachte die ganze Zeit, dass das nicht stimmen könnte.
Und wie sieht die Gegenwart aus?
Dieser Sommer ist wieder ein Festivalsommer. In der Bahn sehe ich viele Jugendliche, die stolz ihre Rock-am-Ring-Bändchen tragen. Manchmal lausche ich Geschichten von mitreißenden "Walls of Death" und fremden Zeltbekanntschaften. Dabei muss ich an die endlosen Schlangen der Dixie-Klos denken und grinse ein wenig.
Trotzdem sind mit meine Nerven wichtiger als der Spaß, den ich dort haben könnte. Die unübersichtlichen, gedrängten Menschenmassen machen mir ein schlechtes Gewissen. Dann kommen die Panik und das Herzklopfen zurück. Die gnadenlose Gewalt der Menge. Der fehlende Platz zum Atmen. Und dann bin ich froh, dass meine Freunde und ich gesund sind und dies dankbar zu schätzen wissen.
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