Maria Magdalena – Ein Sprung ins Verderben
28.04.2019
Da geht sie. Dreimal träumte ich, sie läge im Sarg. Und nun die boshaften Träume. Sie kleiden sich in unsere Furcht, um unsere Hoffnung zu erschrecken. Ich will mich niemals wieder an einen Traum kehren. Ich will mich über den guten nicht wieder freuen, damit ich mich über dem bösen, der ihm folgt, nicht wieder zu ängstigen brauche. Wie sie fest und sicher ausschreitet, schon ist sie dem Kirchhof nah. Wer wohl der erste ist, der ihr begegnet?
Klara, die Tochter des Tischlermeisters Anton, ist mit dem Kassierer Leonhard verlobt und hat sich nach einem Streit gerade wieder mit ihm versöhnt. Und auch sonst scheinen die Wogen in Klaras Familie wieder geglättet zu sein, denn ihre Mutter hat sich gerade von einer schweren Krankheit erholt. Doch neues Unheil droht als eines Tages zwei Gerichtsdiener an der Haustür des Tischlermeisters klingeln, um das Haus zu durchsuchen. Denn Klaras Bruder Karl steht unter Verdacht, Juwelen gestohlen zu haben. Als Klaras Mutter Therese von den Vorwürfen erfährt, stirbt sie infolge des Schocks darüber einen plötzlichen Tod. Nun scheint die Familienehre, die dem Meister Anton so wichtig ist, vollends entrückt. Seine letzten Hoffnungen liegen auf seiner Tochter Klara, die ihm schwören muss, kein Unheil über die Familie zu bringen. Würde auch Klara Schande über die Familie bringen, würde er sich umbringen. Die Selbstmord-drohung des Vaters verschärft ihre Lage, denn sie trägt ein Geheimnis mit sich herum.
Maria Magdalena heißt die Tragödie von Friedrich Hebbel, die 1843 entstand und im Folgejahr veröffentlicht wurde. Das Drama gilt als das letzte geschriebene deutsche bürgerliche Trauerspiel. Uraufgeführt wurde es 1846 im Königsberger Stadttheater. Regisseur Klaus Schumacher ist seit der Spielzeit 2005/06 Leiter der Sparte Junges Schauspielhauses am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Nun legte er mit Maria Magdalena seine erste Regiearbeit am Düsseldorfer Schauspielhaus vor. In seiner Inszenierung betrachtet er den Stoff aus heutiger Sicht und schafft ein Zwei-Ebenen-Spiel. Premiere war am 27. April im Central auf der kleinen Bühne.
Klara und ihr Verlobter Leonhard lieben sich in Wahrheit gar nicht. Denn Leonhard hat es nur auf die Mitgift des Meisters Anton abgesehen. Als Klara ihre Jugendliebe Friedrich wiedertrifft, ist die alte Liebe wie neu entfacht. Leonhard, dem das nicht verborgen bleibt, drängt daraufhin Klara dazu, mit ihm zu schlafen. Klara wird davon schwanger und ist nun vollends auf den Heiratsantrag von Leonhard angewiesen, um ihre eigene Ehre und die der Familie nicht zu beschmutzen. Ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen, ist undenkbar. Zu allem Übel will sich Leonhard nun von ihr lossagen: In die Familie eines Verbrechers möchte er nicht einheiraten. Doch der wahre Grund ist ein anderer: Er erfuhr von Meister Anton, dass dieser das Geld für die Mitgift anderweitig verschenkt hat und so nicht aufbringen könne. Als Leonhard auf Klaras Bitten und Flehen diese nicht zurücknehmen möchte, sieht die junge Frau sich vor einem Scheideweg: Entweder die Schande vor den Vater tragen oder sich selbst umbringen. Sie entscheidet sich für den Selbstmord und stürzt sich schließlich in den Brunnen und stirbt.
Die Inszenierung von Klaus Schumacher zeigt ein Zwei-Ebenen-Spiel: Die Bühne ist eine Museumshalle. In einem weißen Museumskasten hängt ein weißes Kleid. Dahinter sind Treppen mit äußerst hohen Stufen, die bis zur Decke reichen. Auf dem Boden ist ein quadratischer Schacht, der den Brunnen symbolisiert und in dem sich von Beginn an das Wasser im Licht an der Decke spiegelt. Außen am Kasten ist eine kleine Infotafel und jeweils rechts und links eine Sprechanlage mit zwei Knöpfen. Auf dem Kasten steht der Musiker Tobias Vethake, der mit seinen Instrumenten und seinem Equipment von oben den rund eine Stunde 45 Minuten langen Abend begleitet. Außerhalb des Kastens befindet sich der Raum in einem Museums-Setting: Ein grauer, edel wirkender Boden, vier ebenfalls graue Sitzbänke und einzelne Stehtische mit Requisiten drauf. Das Spiel in diesen zwei Ebenen folgt einem Prinzip: Außerhalb des Museumskastens befinden wir uns in der heutigen Zeit, erkennbar an den Kostümen und der Verwendung des heutigen Sprachstils. Innerhalb des Kastens findet das bürgerliche Trauerspiel im Setting der Entstehungszeit statt. Auch hier zu erkennen an den Kostümen und der Originalsprache. Besonders anhand der Frauenfiguren kann man dem Konzept bestens folgen: Im Kasten tragen die Frauen stets Kleider und ordnen sich dem Familienoberhaupt, Meister Anton, unter. Außerhalb dessen tragen die Frauen westliche Kleidung. Therese, die Mutter von Klara, trägt einen Anzug und tritt als emanzipierte Frauenfigur auf. Sie ordnet sich gewiss nicht ihrem Mann unter und interagiert mit ihm auf einer Ebene. Bis zum Schluss des Abends gilt dabei folgende Regel: Die Figuren, die sich außerhalb des Kastens befinden, müssen das Kostüm wechseln ehe sie über die hohe Treppe von hinten in den Kasten eintreten. Dennoch können die Figuren von draußen (und nur von draußen, nicht umgekehrt) das Spiel im Kasten steuern: Durch Druck der Knöpfe, durch das Sprechen durch die Sprechanlage, durch das Hereinreichen von Requisiten, durch das Führen der Nebelmaschine oder durch den Auftritt selber. Drücken die Darsteller*innen die Knöpfe, ändert sich beispielsweise die Lichtstimmung, die Musik oder Effekte, wie der Einsatz einer Nebelmaschine, treten ein. So korreliert das Spiel innerhalb mit dem Spiel außerhalb des Museumskastens und die Ebenen verschieben sich immer wieder.
Befinden sich die Darsteller*innen in der Museumshalle beobachten sie das Spiel im Kasten, tauschen sich miteinander über das Gesehene aus oder greifen aktiv ins Spiel ein. Dabei liegt die Musik von Tobias Vethake stets dem Spiel unter, ohne sich dominant aufzudrängen. Ein schönes und sehr angenehmes Zusammenspiel von Musik und Schauspiel. Auch schauspielerisch ist der Abend wieder eine Wucht und die Interaktion von Jan Maak als Meister Anton und Cennet Rüya Voß als Klara bezeichnend: Er tigert wie ein Löwe, fauchend im Museumskasten herum und drängt seine Tochter in eine Ecke, wo sie kauernd auf dem Boden hockt und weint. Dann kommt es zum ersten "Regelbruch" ins Schumachers Inszenierung: Henning Flüsloh, der übrigens ab der kommenden Spielzeit fest zum Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses gehört, alias Friedrich betritt in der selben Kleidung den Museumskasten, wie er schon außerhalb zu sehen war. Das passt aber bestens, denn mit seinem Strickpullover und seiner Mütze würde er in der heutigen Zeit als "Alternativer" abgestempelt werden und zu der damaligen Zeit eher als lumpig und arm. Und wie er dann auf Klara trifft, von Bruder und Mutter übrigens in den Kasten hereingeschickt, ist schlichtweg berührend: Es scheint, als gäbe es für sie doch ein Licht am Ende des Tunnels, einen guten Ausgang der Geschichte, großes überhäufendes Glück. Denn die beiden lieben einander und blödeln so frisch und jung miteinander herum, dass es große Freude bereitet, ihnen dabei zu zuschauen. "Ich kann deine Brust wieder frei machen!", verspricht er ihr und sie strahlt wie nie zuvor an diesem Abend. Doch für Klara gibt es kein Entrinnen aus diesem Unglücks-Strudel. Bezeichnend dafür bleibt sie in dem Schaukasten gefangen und nur ihre Mitspieler*innen wechseln in ihrem Auftritt. Und dann nimmt sie erstmals den Brunnen wahr, der so hell leuchtet. Sie sitzt davor, beugt sich darüber und blickt in den tiefen Abgrund. Damit dürfte ihre Entscheidung gefallen sein, der Selbstmord unausweichlich. Da hilft auch kein, äußerst klamaukig und schön anzusehendes, Duell zwischen Leonhard und Friedrich, das ihr Geliebter für sich entscheidet. Gerade Christof Seeger-Zurmühlen, der den Leonhard spielt, zeigt dabei große körperliche Beweglichkeit und fliegt förmlich durch den Kasten.
Zum Schluss hebt sich dann die Grenze zwischen den beiden Ebenen vollends auf: Ein Auftritt der Figuren ist nun auch über die Front möglich. Auch Karl kann dann seine Schwester nicht mehr vor dem Unheil bewahren und ist viel zu sehr mit sich beschäftigt, als mit dem großen Unglück seiner Schwester. Für Männer ist es leichter aus den Strukturen auszubrechen und ins Freie zu gehen. "Weiberschicksal", nennt Karl das spöttisch. Und so springt Klara in den Brunnen und stirbt. Zum Schluss tritt sie dann in der Museumshalle ein letztes Mal auf, singt durch die Sprechanlage des Museumskastens ihrem Geliebten zu und nimmt schließlich neben ihrer ebenfalls toten Mutter auf der Sitzbank Platz. Die beiden umarmen einander und blicken nochmal ins Publikum ehe das letzte Licht erlischt. Großer Applaus für das künstlerische Team, die sechs Schauspieler*innen und Musiker Tobias Vethake. Ein großartiger Theaterabend mit einem klugen Regiestreich und einem aufgehenden Konzept. Bitte mehr davon!
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