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Eine Mitschrift des Lebens (Buchtipp)

17.06.2022

Als Wolfram Lotz im Sommer 2017 mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern in ein Dorf im Elsass zieht, weil seine Frau dort einen Job angenommen hatte, war für ihn klar, dass er etwas tun musste. Um am Leben zu bleiben. Vom Dorfleben bereits in der Kindheit schwer traumatisiert, sich mitten in einer persönlichen Krise befindend und voller Angst vor einem innerlichen Absterben setzt sich der Autor an seinen Laptop und schreibt. Beginnend am 8. August, ein Jahr lang, jeden Tag, von morgens bis spät in die Nacht. Ein "Total-Tagebuch" quasi, wie er es nennt. Kein abendlicher Recap, wie es in Tagebüchern üblich ist. Sondern die ganze Zeit (mit)schreiben. Alles aufsaugen und auf Papier bringen. Entstanden sind so knapp 3000 Seiten, bestehend aus unterschiedlich langen Notizen zu jedem einzelnen Tag. Dann löscht er sein Werk. Weil er aber die ersten 900 Seiten an einen Freund gemailt hatte, blieb zumindest der erste Teil erhalten. Und so erscheint Ende April 2022 die "Heilige Schrift I" im S. Fischer Verlag. 

Wolfram Lotz wurde 1981 in Hamburg geboren und wuchs im Schwarzwald auf. Zu Beginn seiner Karriere trat er vornehmlich als Lyriker auf. Seit 2011 schreibt er vornehmlich als Dramatiker für das Theater. Für seine Stücke wurde er mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Stück "Die Politiker", das 2019 in Berlin uraufgeführt wurde und zuletzt auch am Schauspielhaus Bochum zu sehen war. Am 17. Juni präsentierte er in den Bochumer Kammerspielen mit einer Lesung und einem anschließenden Gespräch mit Chefdramaturg Vasco Boenisch sein Buch. 

"Und plötzlich dachte ich: Es wäre einmal tatsächlich über ALLES zu schrieben, genau an diesem Ort, an dem für mich erstmal so wenig ist."

Als "banale heilige Schrift des alltäglichen Lebens" bezeichnet Lotz sein eigenes Werk. Es sei der Versuch, die Vollständigkeit einer Lebenserzählung festzuhalten. Die Gegenwart im selbigen Moment einzufangen. Dass dabei wirre Texte herauskamen, sei unausweichlich gewesen, sagt Lotz, "die Welt ist schließlich auch wirr". Und so liest der Autor vor Publikum auch nicht aufeinanderfolgende Seiten, sondern springt wild umher in seinem Werk. Lässt dabei gerne ganze Abschnitte aus und gelangt hin und wieder zu Zeilen, die er selbst für wichtig, vorlesenswert hält. Die habe er sich beim erstmaligen Lesen gleich markiert, sagt er. Auch wenn jeder Tag mit seinen ganz individuellen Eindrücken zu unterschiedlichen Notizen führte, sind doch auch wiederkehrende Formate und Figuren beim Schreiben entstanden, verrät er im Gespräch: "Die Tristesse der deutschen Filmindustrie" zum Beispiel mit fiktiven Dialogen zwischen Sönke Wortmann und Joseph Goebbels samt einem Streit über die Besetzung von Adolf Hitler in einem neuen Film, oder eben Lotz, der selbst zu Peter Handke oder Miley Cyrus wird und durch das Dorf schleicht. Mit welch kindlicher Spielfreude er diese Figuren im Laufe einer Notiz entstehen lässt, macht beim Lesen große Freude.

Es gehe darum, "eine gewisse Wachheit, den Spaß und eine flüchtende Schönheit in allem zu sehen und einzufangen", beschreibt Lotz den Prozess des Schreibens. Über das Schreiben eine Wachheit über die Dinge zu erlangen, sei das erklärte Ziel gewesen. Was er sich von seinen Leser*innen erhoffe? "Vom Lesen in die Welt zu kommen. Sich umzuschauen, die Welt in diesem Modus sehen zu können und nicht mit gesenktem Kopf im Buch zu versinken". 

Lotz schreibt in seinem Buch auch über ganz alltägliche Dinge, kleine Bewegungen und Begegnungen, mit Menschen, der Natur, Kolleg*innen oder seinen Kinder, die sonst nicht gesehen werden, erzählenswert sind, es aber eigentlich wert seien. "Alles ist heilig", fügt er an. Entstanden ist ein Buch des Lebens, das sich lohnt, in die Hand genommen und gelesen zu werden. "Um den Inhalt geht es dabei am wenigstens", sagt Lotz selbst. Es ist das poetisch-banale Kunstprodukt eines irren Projektes, das fasziniert und begeistert. Und eine große Erleichterung, dass sich auch in einer Kulisse wie dem elsässischen Dorf hunderte Seiten füllen lassen, wenn der Geist und das Auge nur wach bleiben. Und dass es für das Lesen dieses literarischen Schwergewichts vor allem nur eines braucht: die Wirrheit aushalten zu können.

"Heilige Schrift I" von Wolfram Lotz, erschienen im S. Fischer Verlag, 912 Seiten, 34 Euro. Mehr
Außerdem: Uraufgeführt von Regisseur Falk Richter an den Münchner Kammerspielen. Zu sehen bis einschließlich 26. Juni in der Therese-Giehse-Halle.  Mehr

von Marvin

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