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Mr. Nobody – Gezeichnet vom bunten Leben

02.06.2019

Journalist: Welches von all diesen Leben ... welches war ... welches ist das richtige?
Nemo: Jedes von diesen Leben ist das richtige Leben. Jeder Weg ist der richtige Weg. "Denn all das, könnte auch anders gewesen sein, und dennoch hätte es genauso viel Bedeutung." Das ist Tennessee Williams. 

Nemo Nobody ist 117 Jahre alt und der letzte sterbliche Mensch auf Erden. Darum möchte ein sensationsgieriger Journalist unbedingt ein Interview mit ihm führen. Doch Nemo erinnert sich an nichts mehr. So als hätte er nichts erlebt, nicht gelebt. Erst durch die Hilfe von Frau Dr. Feldheim kehrt sein Gedächtnis unter Hypnose nach und nach zurück. Er erzählt dem Journalisten von seinen vielen möglichen Leben, an die er sich nun wieder erinnern kann, und will seinem Gesprächspartner erklären, dass sie beide gar nicht existieren, sondern nur Gestalten der Ideen seines eigenen neunjährigen Ichs sind. Doch wie soll man einem normalen Menschen das bloß erklären? 

Mr. Nobody heißt jener Film, der 2010 mit Jared Leto und Diane Kruger in den Hauptrollen in die Kinos kam. Regie führte der Belgier Jaco Van Dormael. Am Jungen Schauspiel des Düsseldorfer Schauspielhaus hat es sich nun Regisseur Jan Gehler (zuletzt: Ellbogen, Uraufführung: 15. September 2017 & Bilder deiner großen Liebe, Düsseldorfer Premiere: 16. September 2018) zur Aufgabe gemacht, den Film für die Bühne zu adaptieren. Die dafür eigens entwickelte Theaterfassung zeigt: Der Film wird hier nicht nachgespielt, sondern eine eigene Erzählweise für die Bühne präsentiert. Uraufführung war am 1. Juni auf der Bühne in der Münsterstraße 446.

In Mr. Nobody können alle ungeborenen Kinder vorhersehen, was in ihrem Leben passieren wird. Normalerweise nehmen die "Engel des Vergessen" allen Kindern vor deren Geburt dieses Wissen. Doch Nemo wird übersehen und verfügt fortan über die besondere Gabe, alle Varianten von Entscheidungen vorauszusehen und auszuprobieren. Er existiert als 117-, 34-, 15- und Achtjähriger, der nach der Scheidung seiner Eltern entscheiden soll, ob er lieber mit seiner Mutter mitgeht oder bei seinem Vater bleibt. Eine Entscheidung, die sein ganzes Leben verändern kann.

Dem äußerst bildgewaltigen Film, der mit seinen hunderten Schauplätzen, Kostümen und Special Effects als opulente Ausstattungsorgie gilt, setzen Regisseur Jan Gehler und sein Team eine auf Reduktion, Abstraktion und Einfachheit forcierte Theaterinszenierung entgegen. Die Bühne, ganz in schwarz gehalten, besteht aus einer rund zwei Meter hohen Bühnenrückwand, die aus dunklem Plexiglas gemacht ist und auf der mit Kreide gemalt werden kann. Die Wand entpuppt sich im Laufe des Abends sogar als Multitalent: Sie ist nämlich lichtdurchlässig und kann Silhouetten, Schatten und farbiges Licht durchschimmern lassen. Der Boden besteht aus einer gummihaften Oberfläche, auf der ebenfalls problemlos mit Kreide gemalt werden kann. So wird die Fantasie des Publikums angeregt und immer neue Welten entstehen in diesem einzigen schwarzen, unbestimmten Raum, der bald aus zig bunten Kreidezeichnungen besteht.

Zu Beginn ist die Bühne leer und dunkel. Lediglich fünf Strichmännchen sind in weißer Kreidefarbe auf dem Boden aufgemalt (vier links, eine rechts), ehe diese dann tatsächlich nach und nach in menschlicher Gestalt auf der Bühne erscheinen: Auf der linken Seite Natalie Hanslik, Paul Jumin Hoffmann, Marie Jensen, Selin Dörtkardeş und Eduard Lind, die teilweise in zwei Rollen schlüpfen, auf der rechten Seite Jonathan Gyles als Nemo Nobody in weißem Patientenkittel. Es ist eine düstere, geheimnisvolle Atmosphäre, die am Anfang des Stücks gezeigt wird: weißes Licht, ein schwarzer Bühnenraum, harte Blacks und eine spannungsaufbauende Musik. Auf das Science-Fiction Setting des Films wird hier ganz und gar verzichtet. Eine kluge Reduktion, die der ohnehin schon ungemeinen Komplexität des Textes Abhilfe schafft. Von der Ausgangssituation im Jahre 2102 springt die Handlung dann durch Rückblenden und Flashbacks immer wieder zurück in die (mögliche) Vergangenheit der vielen Leben von Nemo Nobody. Dass wird nicht durch opulente Kostümwechsel untermalt, sondern durch die Körperlichkeit der Spieler*innen und kleine, detaillierte Kostüm-Veränderungen. 

Noch vor dem Beginn seines Lebens hat Nemo die Wahl: Wer sollen seine Eltern sein? Auf der Bühne wird das, vergleichsweise mit einem Casting, umgesetzt: Er hat die Wahl zwischen einem heterosexuellen Ehepaar, einem lesbischen Ehepaar, einer alleinstehenden Frau, einem weiblichen Trärchen und und und. Am Ende entscheidet er sich für ein verheiratetes heterosexuelles Paar, weil die Mutter so gut roch. Dass hier so viele verschiedene Beziehungsmodelle einer Partnerschaft als gleichwertig aufgezeigt werden, ist ein kleines, aber so wichtiges Zeichen. Das trifft auch auf die Partnerwahl von Nemo zu: Im Film hat er die Wahl zwischen den Mädchen Anna, Elise und Jeanne, einer blonden, brünetten und einer schwarzhaarigen. Im Theater wird dann aus dem Mädchen Jeanne der Junge Jean und auch die Haarfarben spielen keine Rolle mehr bei der Unterscheidung. Alles weniger oberflächlich und die Gleichstellung der Liebe zu einem Mädchen mit der zu einem Jungen. Ein starkes Zeichen für die freie Liebe zum diesjährigen CSD-Tag in Düsseldorf, dessen Parade nur wenige Stunden vor Beginn der Premiere stattfand.

Der Abend spielt dabei hervorragend die Stärken des Theaters aus: Als Zuschauer kann man selber entscheiden, wo man hinschauen möchte. Überall gibt es fürs Auge, etwas zu entdecken. Die Fantasie des Publikums wird angeregt, damit die Bilder in den Köpfen entstehen können. Schnelle Figurenwechsel. Die Handlung des Stücks erfolgt nicht linear, sondern sprunghaft und asynchron. Dabei gibt es viel zu lachen und trotzdem kommen die berührenden, ruhigen Szenen nicht zu kurz. Kurz um: Ein wahrliches Theaterfest im Jungen Schauspiel, das man unbedingt gesehen haben sollte. Minutenlanger Applaus, teilweise stehende Ovationen für das grandiose Ensemble und das künstlerische Team. Passend dazu ruft ein Zuschauer nach dem Applaus in den Saal "Wir sind der Meinung, das war spitze!". Recht hat er! 

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von Marvin

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