Oratorium – Eine Performance über Eigentum und Besitzverhältnisse
31.03.2019
Es wurde gesagt: Am Anfang war das Land, die ganze Erde und sie gehörte allen. Es wurde gesagt: Es gilt die Prima Occupatio: Wer zuerst sagt "Meins!", dem gehört es auch.
Stellen wir uns eine homogene Gruppe von Menschen vor. Alle Anfang dreißig, alle in Deutschland geboren, alle aus einer bildungsnahen Familie. Große Unterschiede sind in dieser Gruppe nicht zu erwarten. Doch was ist mit den Eigentumsverhältnissen? Da kann es auch heute noch große Unterschiede geben. Oratorium heißt jene Performance, die das Eigentum und die Besitzverhältnisse in den Vordergrund rückt. Im Untertitel heißt es dazu: "[Eine] Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis". Ausgehend von Brechts Lehrstücken formieren sich Künstler*innen des Performance-Kollektivs She She Pop, lokale Delegierte und das Publikum anhand ihrer Besitzverhältnisse zu Sprechchören. In Koproduktion mit vielen Institutionen, darunter dem FFT Düsseldorf, ist ein knapp 90-minütiger Abend entstanden, bei dem das Publikum aktiv zur Teilnahme aufgefordert wird. Ein performatives Experiment, das vor allem mit einer sehr ausgefallenen Methoden arbeitet, die einem erstmal sehr komisch vorkommt. Im FFT Juta war die Performance vom 28.-30. März zu sehen.
Der Bühnenraum ist dunkel. Man kann kaum die Hand vor Augen sehen. Dann wirft ein Beamer Text in weißer Schrift auf die Bühnenrückwand. Ein Dialog zwischen dem Computersystem und dem Publikum entsteht. Der Zuschauer ist dazu aufgefordert, den an die Wand geworfenen Text chorisch und laut vorzulesen. Zunächst sprechen alle Zuschauer gemeinsam als ein großer Chor, dann werden einzelne Gruppen aufgefordert: "Chor der Mütter ohne Altersabsicherung" oder der "Chor der Wohlhabenden". Zu Beginn bilden sich die Sprechchöre noch sehr schüchtern und zurückhaltend. Doch die Dunkelheit schafft Anonymität, denn man sieht nicht, von wem welche Stimme kommt. Und so werden die Stimmen kräftiger und lauter. Es geht um die Themen Geld, Vermögen, Reichtum, Armut, Solidarität und Verteilung. Dann dämmert es allmählich auf der Bühne und die Darsteller*innen, die verteilt und unerkannt im Zuschauerraum sitzen, erheben ihre Stimme und kommen auf die Bühne: Neun Darsteller*innen und zwei Musiker. Die Bühne ist weitgehend leer, lediglich Fahnen und entsprechende Halterungen sind auf der Bühne verankert. Rechts sind die Musiker mit ihren Instrumenten positioniert. Es ist ein äußerst diverses Ensemble, das dort auf der Bühne steht: Neben den Mitgliedern des Performance-Kollektivs sind auch lokale Delegierte mit von der Partie. Auch sie schauen auf eine Projektionsfläche über den Köpfen des Publikums auf der entgegengesetzten Wand und sprechen ihre Texte. Wir alle sind Teil eines Systems. Ein großer Dialog zwischen den Darsteller*innen und dem Publikum. Die Fahnen sind keine klassischen Fahnen bzw. Flaggen im klassischen Sinne. Sie sind zusammengesetzt aus Textilteilen und können wie ein Poncho übergezogen werden.
Der Abend ist zusammengesetzt aus einzelnen Szenen und hat keine narrative Erzählstruktur. Dabei wird teilweise auch konkrete Kritik an der Gesellschaft (Stichwort: Leistungsgesellschaft) und an der Politik geübt. Gearbeitet wird mit dem, was da ist, was die lokalen Delegierten auch mitbringen. So verändert sich die Performance von Reise zu Reise auch immer ein wenig. Es wird proklamiert und protestiert, persönliche Erlebnisse und erfahrene Diskriminierung offenbart. Auch die künstlerischen Stilmittel sind vielseitig eingesetzt. Das Performance-Kollektiv findet immer wieder neue Spielweisen und hält den Dialog mit dem, äußerst aufmerksamen, Publikum aufrecht. Die Hierarchie zwischen Darsteller*innen und Publikum ist so beinahe egalisiert, "Das könnten welche von uns sein!".
Und schließlich endet die Performance, wie sie begonnen hat: Die Darsteller*innen verschwinden wieder in der Anonymität des Publikums und setzen sich in den Zuschauersaal. Vorher wird die kollektive Musikalität noch auf die Probe gestellt: Gemeinsam soll chorisch gesungen werden. Die Fahlen liegen wie eine Insel auf dem Bühnenboden, ein letzter Blick aufs Feld ehe das Licht auf der Bühne erlischt und auch das letzte Summen verstummt. Ein einmaliges Performance-Erlebnis, das so inspirierend wie anregend wirkte. Es gibt gute Gründe, warum diese freie Theaterproduktion für das Berliner Theatertreffen 2019 eingeladen worden ist. Applaus!
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